Handwerkspräsident Jörg Dittrich hat Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) mit Blick auf die Probleme des Wirtschaftsstandorts Deutschland Selbsttäuschung vorgeworfen. „Der Kanzler hat tatsächlich eine sehr eigene Sicht auf die Dinge“, sagte Dittrich der „Süddeutschen Zeitung“.
Scholz verweise gebetsmühlenartig darauf, dass derzeit die Rekordzahl von 46 Millionen Menschen sozialversicherungspflichtig beschäftigt und damit alles in Ordnung sei. Die Wirtschaftsverbände fragten sich dagegen im Einklang mit vielen Ökonomen: „Ist das noch das richtige Erfolgskriterium? Oder müssten wir nicht vielmehr schauen, ob wir auch für die Zukunft gut aufgestellt sind? Ob wir genug investieren? Wie wir unser schwaches Wachstumspotenzial wieder steigern und was wir brauchen, um im Wettbewerb mit anderen Ländern weiter bestehen zu können?“, so Dittrich. Selbst die Koalitionsparteien FDP und Grüne verträten mittlerweile die Ansicht, dass strukturelle Reformen notwendig seien. Der Kanzler hingegen „scheint es aktuell anders einzuschätzen“.
Der Chef des Zentralverbands des deutschen Handwerks (ZDH) nahm aber zugleich auch die eigene Zunft in die Pflicht. Die Betriebe müssten im Kampf gegen den Fachkräftemangel mehr tun, um junge Menschen für eine Berufsausbildung zu begeistern. „Das Handwerk bietet gute Bezahlung und Entwicklungsmöglichkeiten, vor allem aber auch Sicherheit: Mancher Beruf, etwa in der Industrie oder bei Banken, wird durch Roboter oder Künstliche Intelligenz womöglich verschwinden. Aber KI kann kein kaputtes Rohr reparieren – vermutlich auch in 20 Jahren nicht“, sagte Dittrich.
Jugendliche könnten im Handwerk zudem sozialen Halt und den Anschluss an eine „Familie“ finden. „Manch erfahrener Kollege sorgt erst mal dafür, dass ein Auszubildender regelmäßig isst oder pünktlich auf der Baustelle erscheint. Oder er lebt vor, dass man Bitte und Danke sagt. Ich sage manchmal zugespitzt: Ein Handwerksmeister ersetzt zwei Sozialarbeiter“, so Dittrich.
Den Vorwurf, Handwerker seien für viele Kunden kaum mehr erreichbar und zudem unbezahlbar, wies der ZDH-Präsident zurück. „Es kann nicht sein, dass sich große Konzerne ihrer hohen Umsatzrenditen rühmen, während wir uns für ein paar Euro mehr rechtfertigen sollen, obwohl wir als Handwerker jeden Tag persönlich ins Risiko gehen“, sagte Dittrich. Einen Großteil der zusätzlichen Einnahmen gäben die Betriebe zudem an die Mitarbeiter weiter, deren Löhne zuletzt spürbar gestiegen seien.
Er mache sich allerdings schon Sorgen, dass manche Leistungen so teuer würden, dass sie nicht mehr nachgefragt würden oder in der Schwarzarbeit verschwänden. „Das ist aber kein Problem des Handwerks, sondern der Gesamtgesellschaft, weil der größte Teil des Kostenschubs nicht von uns beeinflussbar ist, sondern wir letztlich die uns auferlegten Kosten weitergeben“, so Dittrich. „Wenn wir beispielsweise die Zementherstellung über den CO2-Preis immer weiter verteuern, dann mag das aus Klimaschutzgründen richtig sein. Es hat aber Folgen, beispielsweise für die Preise des Bauhandwerks.“