Das zeigt eine bundesweite Recherche des „Tagesspiegels“. Die Befragten fürchten demnach einen Stimmungsumschwung in der Bevölkerung und warnen vor einem Kollaps von Teilen der öffentlichen Verwaltung.
Sie kritisieren unter anderem Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) dafür, dass beim Flüchtlingsgipfel von Bund und Ländern am 10. Mai die Vertreter der Kommunen nicht beteiligt sein werden. „Ich will niemandem unterstellen, dass er die Augen verschließt, aber man merkt schon, dass im Bund noch nicht überall angekommen ist, wie die Realität aussieht“, sagte Claudia Kalisch (Grüne), Oberbürgermeisterin der Hansestadt Lüneburg. „Wir stehen finanziell und personell mit dem Rücken an der Wand.“ Eckart Würzner (parteilos), Oberbürgermeister der Stadt Heidelberg, sagte, dass er zwingend erwartet hätte, dass die Kommunen beim Gipfel am 10. Mai am Verhandlungstisch dabei seien „Das wäre das Mindeste gewesen“, so der stellvertretende Präsident des Deutschen Städtetags.
Die kommunal Verantwortlichen fürchten, die Stimmung in der Bevölkerung könnte kippen. „Hier bei uns vor Ort werden Hass und Hetze langsam, aber spürbar mehr. Es ist dringend an der Zeit, eine echte Strategie zu entwickeln“, sagte Wiebke Sahin-Schwarzweller (FDP), Bürgermeisterin der Stadt Zossen in Brandenburg. „Es ist nach wie vor eine große Hilfsbereitschaft da. Aber wir laufen sehenden Auges in eine Situation hinein, die einfach nicht mehr tragbar ist“, fügte Lüneburgs Oberbürgermeisterin Kalisch hinzu.
Ingo Mehner (CSU), Erster Bürgermeister der Stadt Bad Tölz, beklagte unterdessen, dass man merke, „dass so langsam in der angestammten Bevölkerung eine Stimmung entsteht, die wir nicht wollen“. Die Befragten schildern laut „Tagesspiegel“ massive Probleme vor Ort, zum Beispiel in der Frage der Unterkünfte. „Es ist im Moment nicht an Integration zu denken, es geht nur noch darum, die Menschen irgendwie unterzubringen“, sagte Mehner.
Laut Petra Enders (parteilos, für Linke), Landrätin des Ilm-Kreises (Thüringen), ist das dringendste Thema derzeit fehlender Wohnraum. „Hier sind Bund und Länder dringend in der Pflicht, sozialen Wohnraum zu fördern und nicht nur zu erklären, Menschen aufzunehmen, sondern zu handeln.“ In der Frage der Finanzen fordern die Befragten eine viel stärkere Beteiligung des Bundes sowie mehr Verlässlichkeit und Planungssicherheit. „Ich erwarte, dass der Bund in die Finanzierung der Unterbringung voll mit einsteigt. Ich sehe nicht mehr ein, dass wir als Kommune dafür Lasten zu tragen haben“, sagte Stephan Meyer (CDU), Landrat des sächsischen Landkreises Görlitz.
Er wirft Innenministerin Nancy Faeser (SPD) vor, die finanzielle Not der Kommunen zu verkennen. „Ich weiß nicht, in welcher Welt sie lebt“, so Meyer. „Ich bringe gerade einen Haushalt auf den Weg, der nicht genehmigungsfähig ist, mit einem Defizit von 100 Millionen Euro für die nächsten beiden Jahre.“
Gerade die dezentrale Unterbringung der Geflüchteten sei teuer, aber sehr wichtig für die Integration. Meyer fordert Planungssicherheit, dass Vorhaltekosten für die Unterbringung auch übernommen würden, sollte die Zahl der Ankommenden tatsächlich irgendwann wieder zurückgehen. Die kommunalen Verantwortlichen haben verschiedene Lösungsideen. Sie fordern etwa eine schnellere Anerkennung von Berufsabschlüssen sowie eine radikale Vereinfachung des Ausländerrechts. „Die Ausländerbehörden in vielen Orten sind mittlerweile komplett überlastet. Neues Personal muss ein halbes Jahr geschult werden, so kompliziert sind die Gesetze. Es braucht ganz dringend eine radikale Vereinfachung“, sagte Heidelbergs Oberbürgermeister Würzner. „Vielleicht waren die Kommunen zu lange zu leise. Aber irgendwann werden unsere Ausländerbehörden schlicht kollabieren“, prognostiziert er. Enders fordert unterdessen, noch immer laufende Abrissprogramme aus den Neunzigerjahren zu stoppen. „Sie waren zum damaligen Zeitpunkt richtig, gehören jetzt aber dringend auf den Prüfstand“, sagte sie. Meyer hält es derweil für notwendig, über die Standards der Unterbringung und Versorgung zu reden. „Im Moment wird ein 17-jähriger unbegleiteter Flüchtling genauso engmaschig betreut wie ein vierjähriges Mädchen, das vom Jugendamt aus seiner Familie genommen werden musste. Das ist die Gesetzeslage, aber es ist einfach nicht mehr zu leisten, weil wir die Fachkräfte schlicht und einfach nicht haben.“ Die Erstaufnahmeeinrichtungen der Länder müssten viel mehr Kapazitäten haben, forderte unterdessen Karin Welge (SPD), Oberbürgermeisterin der Stadt Gelsenkirchen. „Und dann sollten nur die Menschen in die Kommunen kommen, die tatsächlich eine Bleibeperspektive in Deutschland haben“, so Welge weiter. Der Ärger geht über Parteigrenzen hinweg. Die Befragten fordern eine bessere Kommunikation zwischen Bund und kommunaler Ebene ein. „Wir fühlen uns als Kommunen vollkommen alleingelassen, fast schon ignoriert“, sagte Julian Christ (SPD), Bürgermeister der Stadt Gernsbach (Baden-Württemberg), dem „Tagesspiegel“.