Der Militärhistoriker Sönke Neitzel wirft der Bundesregierung vor, Deutschland nicht in ausreichendem Tempo verteidigungsfähig zu machen. „Es wird zu wenig in unsere Verteidigung investiert – und zwar so wenig, dass wir im Ernstfall weder unsere Bündnispartner noch uns selbst über einen längeren Zeitraum verteidigen könnten“, sagte Neitzel der „Welt am Sonntag“.
Außerdem habe sich die Bundesregierung entgegen dem Rat der Fachleute im Verteidigungsministerium entschlossen, auf die Einführung des schwedischen Modells als neue Form der Wehrpflicht zu verzichten. „Damit entzieht diese Regierung dem Land – uns – die Verteidigungsfähigkeit für mindestens die nächsten vier Jahre“, sagte der Professor für Militärgeschichte und Kulturgeschichte der Gewalt an der Universität Potsdam. „Ich möchte einmal ganz deutlich festhalten: Das ist eine Katastrophe. Diese Entscheidung ist gefällt worden, obwohl die Ampel-Parteien wissen, wie dramatisch die sicherheitspolitische Lage ist.“
Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) attestiert Neitzel „eine Politik der Diagonalen“. Scholz versuche einerseits, die Bundeswehr aufzurüsten und das Zwei-Prozent-Ziel der Nato zu erreichen, andererseits die Linke der SPD bei der Stange zu halten. „Scholz macht deshalb drei Schritte vor und geht dann zwei zurück: Dem Sondervermögen folgt keine nachhaltige Finanzierung, die Waffenlieferungen an die Ukraine erfolgen immer nur zögerlich und manchmal gar nicht“, so Neitzel. Das sei ein „gefährliches Vabanquespiel“. Vielleicht habe Scholz mit seiner Einschätzung recht, dass die Nato in naher Zukunft nicht gegen Russland werde kämpfen müssen. „Man kann nur beten, dass er recht hat“, so Neitzel. „Kommt es anders, bleibt nur zu sagen: Dann wird Olaf Scholz an vielen Gräbern stehen müssen. Diese Verantwortung trägt der Kanzler.“
Hart ins Gericht geht der Historiker auch mit der Generalität der Bundeswehr. „Die Generalität der Bundesrepublik Deutschland ist zur absoluten Loyalität, ich würde sogar sagen, geradezu zur selbstverachtenden Loyalität erzogen worden“, sagte Neitzel. Die Gründergeneration der Bundeswehr habe ihren Verteidigungsauftrag noch sehr ernst genommen: „Und wenn sie ihn nicht erfüllen konnten, dann haben sie den Mund aufgemacht.“ Heute halte sich die Generalität öffentlich zurück, „selbst wenn die Regierung unsinnige Dinge beschließt“.
Neitzel forderte die hohen Offiziere zu mehr Mut auf: „Wenn ihr euch in den großen Fragen, etwa der Wehrpflicht oder dem Finanzbedarf, mit euren Forderungen bei der Regierung nicht durchsetzen könnt, dann müsst ihr die Anordnungen der Exekutive natürlich befolgen. Das ist das Primat der Politik. Aber es ist eure verdammte Pflicht, die Öffentlichkeit über die Folgen dieser Beschlüsse zu informieren. Als Bürger in Uniform ist es eure Aufgabe, die übrigen Bürger ins Bild zu setzen. Das geschieht leider nicht.“
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