Der Senegalese war im vergangenen August von einem Polizisten erschossen worden, nachdem er sich in offenkundig psychisch beeinträchtigtem Zustand selbst mit einem Messer verletzen wollte. Der Einsatz hat eine Debatte über die Polizeistrategie im Umgang mit psychisch kranken Menschen entfacht.
Die Polizisten waren beim Einsatz in der Dortmunder Nordstadt Anfang August darüber informiert, dass sich der Jugendliche aus dem Senegal in einer psychischen Ausnahmesituation befand und sich offenbar selbst töten wollte, berichtet die „Süddeutsche Zeitung“ in ihrer aktuellen Ausgabe. Der 16-Jährige stand bei Eintreffen der Polizei regungslos mit einem Messer in der Hand im Hof der Jugendeinrichtung, in der er untergebracht war. Der Einsatzleiter soll seine Beamten angewiesen haben, den jungen Mann zu überwältigen. Sie sollten demnach vorrücken und den Mann „schlagartig einpfeffern“. Psychologen und Kriminologen empfehlen dagegen in solchen Situationen eine Strategie der Deeskalation, um zusätzlichen Stress bei der Zielperson zu vermeiden. Einem Polizisten mit Maschinenpistole soll er laut Zeugenaussage eingeschärft haben, dieser sei der „last man standing“. Zwischen Ansprache, auf die Drame nicht reagierte, und dem offenbar massiven Einsatz von Pfefferspray, Elektroschocker und schließlich der Schusswaffe vergingen demnach nur wenige Minuten. Drame hatte sich augenscheinlich erst wegen des Einsatzes von Pfefferspray überhaupt aus seiner Starre gelöst und war auf die Polizisten zugegangen, ohne das Messer abzulegen. Die staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen gegen fünf von zwölf an dem Einsatz beteiligten Polizisten sind noch nicht abgeschlossen. An diesem Samstag findet in Dortmund eine Demonstration gegen tödliche Polizeigewalt statt. Der nordrhein-westfälische Innenmnister Herbert Reul (CDU) hat kürzlich angekündigt, Fälle von Schusswaffeneinsatz mit Todesfolge in seinem Bundesland rückwirkend untersuchen zu lassen, um Rückschlüsse auf mögliche Verbesserung unter anderem in der Aus- und Fortbildung von Polizeibeamten zu gewinnen. Der Dortmunder Fall ist nicht der einzige, bei dem psychisch Kranke bei Einsätzen der Polizei zu Tode kamen.
Eine offizielle Statistik dazu gibt es nicht. Die SZ hat anhand von Presseberichten, Polizeimeldungen, einer Dokumentation des Vereins „Institut für Bürgerrechte und öffentliche Sicherheit“ sowie Zahlen des Polizeipsychologen Clemens Lorei von der Hessischen Hochschule für öffentliches Management und Sicherheit daher eine solche Statistik erstellt. Danach sind seit 2010 mindestens 133 Menschen in Deutschland von Polizisten erschossen worden. Davon könnten mindestens 63 psychisch krank, suizidal gewesen sein oder sich in einer psychischen Ausnahmesituation befunden haben.
Zusätzlich waren mindestens sieben Menschen nachweislich betrunken oder standen unter dem Einfluss anderer Drogen. Manche Experten gehen davon aus, dass der Anteil auf diese Art beeinträchtigter Menschen unter den Opfern von Polizeischüssen sogar bis zu 75 Prozent betragen könnte. Den Mangel an belastbaren Daten kritisiert auch Irene Mihalic, parlamentarische Geschäftsführerin der Grünen im Bundestag. Sie sagte der SZ, man brauche jetzt „Zahlen, um politisch eine Antwort finden zu können“.
Polizeigewerkschaften weisen darauf hin, dass die Gefährdung von Polizeibeamten durch Waffen, vor allem durch Messer, gestiegen sei. Der SZ-Erhebung zufolge hatten von den psychisch beeinträchtigten Todesopfern tatsächlich die meisten eine Stichwaffe in der Hand: 2022 hatten demnach von bisher neun Getöteten acht eine Stichwaffe, 2021 waren es sechs von acht Getöteten, 2020 waren es 13 von 15. Eine Umfrage der SZ unter allen Bundesländern ergab: In welchem Umfang der Umgang mit psychisch Kranken in Fortbildungen behandelt wird, variiert von Bundesland zu Bundesland stark. Mal spielt das Thema in verpflichtenden Einsatztrainings eine Rolle, mal sind die Fortbildungen freiwillig. In anderen Bundesländern wiederum gibt es überhaupt keine Fortbildungen zum richtigen Umgang mit psychisch Kranken. Der Vorschlag, wonach man Beamte besser unterstützen müsse, indem man ihnen zum Beispiel wie von Experten gefordert in größerem Umfang als bisher psychiatrische Fachkräfte an die Seite stellt, wird verneint oder als unrealistisch eingestuft.