Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) sieht beim Thema Rekrutierung, unabhängig von aktuell diskutierten Dienstpflichtmodellen, dringenden Handlungsbedarf für die Bundeswehr. „Wenn wir heute den Spannungs- oder Verteidigungsfall hätten, dann wüssten wir nicht, welche Wehrpflichtigen wir einziehen können“, sagte er dem Nachrichtenmagazin Focus.
Der Grundwehrdienst sei nur ausgesetzt, führte er aus, „das vergessen viele“. Er würde im Spannungs- und Verteidigungsfall wieder in Kraft treten. „Darauf sind wir derzeit nicht ausreichend vorbereitet.“ Alle erforderlichen Strukturen wie die Kreiswehrersatzämter seien mit dem Aussetzen der Wehrpflicht im Jahr 2011 zerschlagen worden.
„Wir brauchen mindestens die Möglichkeit, Jahrgänge zu erfassen und zu mustern. Das ist die Voraussetzung für alles Weitere“, erklärte Pistorius. „Es geht in jedem Fall nicht ohne Veränderungen.“ Derzeit prüft sein Ministerium verschiedene Dienstpflichtmodelle. „Würden wir einen Grundwehrdienst sowohl für Männer als auch für Frauen einführen, müsste jedoch das Grundgesetz geändert werden“, so der Minister.
Mit dem russischen Überfall auf die Ukraine hat in Deutschland die Debatte wieder an Fahrt gewonnen, ob junge Menschen zu einem Dienst herangezogen werden sollen. Die Bundeswehr hat Mühe, Nachwuchs zu gewinnen.
Weiter warnt Pistorius davor, bei der sicherheitspolitischen Zeitenwende nachzulassen: „Was wir bisher geleistet haben, kann und darf nicht alles gewesen sein.“ Es werde noch „mehrere Jahre“ dauern, bis Deutschland „kriegstüchtig“ sei. Man dürfe nicht naiv sein. Russlands Präsident Wladimir Putin „sucht und nutzt jede Schwäche“.
Nach dem russischen Überfall auf die Ukraine hatten Regierung und Parlament 100 Milliarden Euro in einem sogenannten „Sondervermögen“ bereitgestellt, um die Bundeswehr zu modernisieren. Dieses Geld werde Ende des Jahres aufgebraucht sein. „Jetzt muss neues Geld nachkommen“, fordert Pistorius. In den beginnenden Haushaltsberatungen will er sich für zusätzliche Milliarden für die Bundeswehr einsetzen. Er nannte einen Bedarf von rund 6,7 Milliarden Euro für 2025.
Der Minister hält es für angebracht, für die weitere Modernisierung der Bundeswehr und die Ukraine-Hilfe auch neue Schulden aufzunehmen. Diese Aufgaben erforderten „Milliardenbeträge, die man nicht einfach mal so aus dem laufenden Haushalt finanzieren kann“, sagte Pistorius. „Wir müssen uns doch mal ehrlich machen. Die Sicherheit der Menschen hat Verfassungsrang.“
Zudem tritt er Vorwürfen entgegen, Deutschland unternehme nicht genug, um die Ukraine im Kampf gegen Russland zu unterstützen. „Fest steht: Wir sind der weltweit zweitgrößte Unterstützer der Ukraine, der größte in Europa, und zwar mit deutlichem Abstand. Wir liefern das, was die Ukraine am dringendsten braucht, vor allem Luftverteidigungs- und Artilleriesysteme, Munition und gepanzerte Gefechtsfahrzeuge.“ Auf die Frage, ob die Ukraine den Krieg noch gewinnen könne, antwortete er: „Ja. Und wir müssen alles dafür tun.“ Mit der Lieferung einer weiteren Patriot-Luftverteidigungseinheit gehe Deutschland „an die Schmerzgrenze bei Abgaben aus der Bundeswehr“.