Im Streit um die Kindergrundsicherung nutzen sowohl Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) als auch Bundesfamilienministerin Lisa Paus (Grüne) zweifelhafte Angaben. So sagte Lindner mehrfach, dass sich durch die Einführung der Sozialleistung für 70.000 Menschen Arbeit nicht mehr lohnen könnte.
In einem gemeinsamen Dokument des Instituts zur Zukunft der Arbeit (IZA), des Ifo-Instituts und des Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW), über das der „Spiegel“ berichtet, wird an einer Stelle zwar tatsächlich ein Wert von maximal 70.700 Vollzeitarbeitskräften genannt, die vor allem unter Alleinerziehenden wegfallen könnten. Doch gleich im ersten Absatz stellen die Autoren klar: „Der auf Basis unseres Simulationsmodells vorhergesagte leichte Rückgang stellt eine deutliche Überschätzung dar.“
Die Ökonomen machen mehrere Schwächen ihres Modells transparent, die alle die errechnete Zahl der Arbeitsverweigerer erhöhen. So weisen sie darauf hin, dass in ihrem Modell andere Regeln für die Anrechnung von Kindeseinkommen zugrunde gelegt werden als in der Realität. Dadurch werde die Zahl der Personen, die den Arbeitsmarkt verlassen, „systematisch überschätzt“. Auch werde Freizeit als „zu attraktiv bewertet“ und nicht berücksichtigt, dass gerade Alleinerziehende Auszeiten vermeiden – weil sie anschließend mit niedrigeren Löhnen rechnen müssen.
Insgesamt, so das Fazit, seien die Effekte der Kindergrundsicherung auf den Arbeitsanreiz „sehr moderat“. Bei Alleinerziehenden machten sie zwar „niedrige einstellige Prozentzahlen“ aus. „Unser Modell überschätzt diese Effekte jedoch aus einer Reihe von Gründen, sodass die tatsächlichen Effekte noch geringer ausfallen dürften.“
In Kreisen des Finanzministeriums heißt es, dies sei die einzig konkrete Zahl, die bisher von den Instituten ermittelt wurde. Zudem sei das Ziel der Reform, dass mehr Menschen die Leistungen der Kindergrundsicherung in Anspruch nehmen, wodurch dann die Erwerbstätigkeit weiter sinken dürfte.
Paus wiederum wies Berechnungen der Bundesagentur für Arbeit (BA) zurück, wonach für die Einführung der Kindergrundsicherung rund 5.000 neue Stellen notwendig seien. Sie erklärte aber nicht konkret, wie eine Reduktion gelingen soll. Das sorgte für Irritation in der BA, die Jobcenter gehen eher von einem noch höheren Bedarf aus.
Anfang April sagte Paus zudem, laut Einschätzung des Normenkontrollrats habe die Kindergrundsicherung das „Potenzial, unseren Sozialstaat, der ächzt unter dieser Bürokratielast, zu modernisieren. Und das machen wir mit der Kindergrundsicherung“.
Am Ende eines Berichts zur „Vereinfachung und Automatisierung von Sozialleistungen“ schreiben die Normenwächter zwar, dass diese Ziele auch mit einer Kindergrundsicherung erreichbar wären. Der Gesetzentwurf aber erreicht demnach das Gegenteil: Die Komplexität des Systems werde „nicht reduziert“, sondern „durch die geplante Schaffung neuer lokaler Strukturen erhöht“.